Neues 6/2024

Zum Gedenken an Michael Ruetz



Liebe Freunde und Freundinnen des Verlags,
sehr geehrte Damen und Herren
 
Aus Berlin erreicht uns die traurige Nachricht, dass Michael Ruetz am 2. Dezember im Alter von 84 Jahren verstorben ist. Als Fotograf wurde er 1968 quasi über Nacht bekannt, als er in Berlin die Rebellion der Studenten und die unverhältnismässige Reaktion der Ordnungsmächte darauf dokumentierte. Das waren aufwühlende Bilder, die mitten aus dem Geschehen heraus sprachen, und sie gelten heute zurecht als ikonische Zeugnisse dieser Zeit.
 
So war es eine besondere Ehre, als Michael Ruetz fast 50 Jahre nach der Entstehung dieser Fotos auf uns zutrat und eine Neu-Edition des Materials vorschlug. Ich fuhr nach Berlin in der Erwartung, dort einen agilen, wendigen Reporter zu treffen – einen jener Fotografen im Geiste Cartier-Bressons, der nie ohne Kamera aus dem Haus ging und allzeit bereit war zu rascher Reaktion. Doch weit gefehlt. Der Mann, den ich kennenlernte, machte einen ausgesprochen ruhigen, ja, in sich gekehrten Eindruck – augenscheinlich ein Intellektueller, der irgendwie unter die Fotografen geraten war. Und trotz meiner Überraschung konnte ich augenblicklich verstehen, warum Christoph Stölzl (der in ähnlicher Weise als Intellektueller unter die Politiker gefallen war) ihn mir mit besonderem Nachdruck als einen seiner vertrautesten Freunde beschrieben hatte.
 
Was Michael Ruetz uns dann anbot, war unerwartet. Inzwischen misstraute er nämlich den ikonischen 1968er-Fotos, die ihn berühmt gemacht hatten. Ihm schien, dass man die Aufnahmen nicht mehr wirklich betrachtete, sondern beim Blick darauf nur noch pauschal abhakte, was man zu kennen glaubte. So hatte er beschlossen, die Bilder zu ‹dekonstruieren› und nur noch Partien daraus zu zeigen oder Ausschnitte in starker Vergrösserung. Da war er: der kritische Intellektuelle, dem es um das Hinterfragen eingeschliffener Sehweisen ging und der den Schein von Kenntnis attackierte, selbst wenn es um die eigenen Fotos ging. Auch wollte er der inzwischen gängigen Selbstglorifizierung der 1968er nicht weiter zudienen, sondern ihr noch eine andere Realität gegenüberstellen, die er damals ebenfalls fotografiert hatte: Szenen aus dem Alltag von West- und Ost-Berlin, hart unterbrochen durch Bilder aus der sogenannten ‹Dritten Welt›, vor allem aber durch Fotos des Konzentrationslagers Auschwitz und der geschundenen Gesichter von Holocaust-Überlebenden. Denn Michael Ruetz war nicht nur Fotograf, sondern vor allem Dokumentarist.
 
Dies zeigte sich in besonderem Mass bei einem Buch, das er uns ein Jahr später zum 80. Jahrestag der Pogrome vom 9. November 1938 antrug. Mit seiner Assistentin Astrid Köppe hatte er Hunderte von lokalen Archiven angeschrieben und nach Bilddokumenten und Augenzeugenberichten zur sogenannten ‹Reichskristallnacht› gefragt. Die Dokumente, die er dadurch zutage förderte, taten einem nicht nur regelrecht weh, sondern widerlegten vor allem einen Mythos: Dass die deutsche ‹Normalbevölkerung› nichts gewusst habe von der Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger – im Gegenteil, sie hatte eifrig daran mitgetan und dabei unverhohlen eine sadistische Schadenfreude ausgelebt. Dies belegten zahllose der aufgefundenen Fotos – vor allem wenn man sie ähnlich genau betrachtete und Ausschnittvergrösserungen aus ihnen herauspräparierte, wie Ruetz dies mit seinen 1968er-Fotos getan hatte. Das «Gesicht in der Menge» (dies der Untertitel des Buches) offenbarte eine unmissverständliche Sprache des Hasses und der Häme, so dass es keine (Selbst-)Entschuldigung geben konnte. Und Michael Ruetz war bescheiden genug, zu sagen, dass diese Fotos wichtiger waren als seine eigenen.
 
Auch wenn die Anklage hart ausfiel, die das «Pogrom»-Buch nolens volens formulierte, so gab es im Schaffen von Michael Ruetz auch noch einen Bereich jenseits von historischer und politischer Aktualität. Denn der nachdenkliche Geist, der er war, hatte auch eine kontemplative Seite – nicht im Sinne der Selbstbeobachtung, sondern im Sinne einer Empfänglichkeit für die Tiefenströmungen der Zeit. Was ist Dauer, was ist Wandel, und wie tritt dieses Wechselspiel in Erscheinung? Diese Fragen haben ihn zeitlebens beschäftigt, woran man beiläufig auch erkennen kann, dass er nicht zufällig zunächst Sinologie studiert hatte. Wie kaum ein anderer Fotograf hat er das Phänomen der Zeit zu seinem Thema gemacht. Über Jahrzehnte hinweg ging er regelmässig immer wieder an die gleichen Orte und fotografierte punktgenau von derselben Stelle und in exakt gleicher Perspektive, wie sich die Szenerie nun darbot und sich verändert hatte. Diese Langzeitperspektive erwies sich für das, was sich nach 1989 in Berlin ereignete, als ein untrügliches Konzept zur Wahrheitsfindung mit optischen Mitteln – und Tausende haben die Ausstellung dieser Fotos im vergangenen Sommer staunend besucht.
 
Im Rahmen des Mediums Buch durften wir ein analoges Projekt mit Michael Ruetz realisieren, das die verinnerlichte, ja, philosophische Seite seines Wesens vielleicht am schönsten zeigt: die Fotoserie des immer gleichen Landschaftsausschnittes in den bayerischen Voralpen. Die Wiesen im Vordergrund, die wenigen verstreuten Häuser, die Waldpartien und Hügelzüge, die Gipfel der Alpen am Horizont – all dies ist auf allen Bildern gleich, und doch ist keine Situation wie die andere. Im Gegenteil: Der Wechsel könnte kaum intensiver sein und reicht von friedlicher Idylle bis zu geradezu apokalyptischer Licht- und Wetterdramatik – in summa nichts Geringeres als die ‹absolute Landschaft›, wie sie über die Endlichkeit unserer irdischen Existenz hinausreicht.
 
Bernhard Echte



Die Bücher von Michael Ruetz: 

Gegenwind. Facing the Sixties
Mit Texten von Michael Ruetz und Christoph Stölzl
208 Seiten, 85 Abbildungen
ISBN 978-3-03850-038-4
EUR | CHF 14.80 


Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge
Mit Texten von Michael Ruetz, Astrid Köppe und Christoph Stölzl
156 Seiten, 89 Abbildungen
ISBN 978-3-03850-050-6
EUR | CHF 36.00



Die absolute Landschaft
Nummerierte und signierte Ausgabe
Halbleinen, 220 Seiten
ISBN 978-3-03850-051-3
EUR | CHF 198.00