Neues aus dem Verlag 1/2023
Zum Gedenken an Christoph Stölzl
Am 10. Januar 2023 ist unser Autor Christoph Stölzl überraschend im Alter von 78 Jahren gestorben. Als Direktor des Münchner Stadtmuseums und Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums gelangte er zu Bekanntheit. Dann wurde er Berliner Kultursenator und Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses. Zuletzt fungierte er für gut zehn Jahre als Präsident der Weimarer Musikhochschule. Vor allem aber war er ein ‹Homme de lettre›.Zusammengeführt hat uns Barbara Klemm während der Buchmesse 2009; wir hatten soeben ihre «Straßen Bilder» herausgebracht – parallel zu einer Ausstellung im Frankfurter Museum für Moderne Kunst MMK. Das Buch war in aller Munde und Christoph Stölzl, der zuvor Barbara Klemms Fotoband «Unsere Jahre» herausgegeben hatte, wollte wohl wissen, wer da in seine Fußstapfen zu treten versuchte. So lud uns Barbara Klemm miteinander zum Frühstück ein.
Es wurde eine Begegnung, deren Details man vergisst, weil die Erinnerung an die Atmosphäre so stark nachwirkt. In diesem Fall war es die Leichtigkeit der Unterhaltung, die Vorurteilslosigkeit, mit der Stölzl dem Novizen begegnete, seine Zugewandtheit, seine fein temperierte Herzlichkeit und vor allem seine Neugier. Er wollte wirklich wissen, wer man war. Und am Ende des Vormittags gab es diese völlig selbstverständliche Klarheit: Natürlich würde man in Zukunft etwas miteinander ‹machen› – allein die rasch wechselnden Themen des Gesprächs hätten bereits zu einer Handvoll Projekten führen können.
Es dauerte nicht lange, und Stefan Moses rief aus München an. Sein Freund Christoph Stölzl habe gesagt, für den Fotoband «Deutschlands Emigranten» sei NIMBUS der richtige Verlag; wann wir vorbeikommen könnten. Die Begegnung mit Stefan Moses war dann in anderer Weise unvergesslich, und wir hätten es uns wohl kaum zugetraut, mit diesem ebenso genialen wie wunderlichen Fotografen ein Buch zu machen, wenn Christoph Stölzl nicht versprochen hätte, er werde zu den hundert Emigranten kurze biografische Porträts schreiben, und wir würden sehen: Alles werde klappen.
Und tatsächlich: Es klappte alles, denn sobald es aussah, als ob wir uns verheddern könnten, gab es einen Anruf aus Weimar oder Christoph Stölzl stand in persona vor der Türe und wusste mit wenigen liebevollen Winken den Tanzbären dorthin zu lenken, wo unser aller Vorteil lag. Als das Buch erschien, fand es eine unerwartet starke Resonanz, ja mehr noch: Es ließ bei Bernd Schultz, dem Grandseigneur des Berliner Auktionshauses Villa Grisebach, eine Idee reifen: Deutschland müsse endlich ein Exilmuseum haben, und es sollte dann natürlich kein anderer sein als Christoph Stölzl, den er zum Gründungsdirektor dieses Projekts berief.
Im November 2013 war es erneut Barbara Klemm, die für eine Begegnung sorgte: Der Martin Gropius-Bau in Berlin zeigte ihre große Retrospektive, bei deren Eröffnung Christoph Stölzl nicht fehlen durfte. Gesehen habe ich ihn im Getümmel der mehreren Hundert Vernissage-Gäste allerdings nicht, und ich habe den Eindruck, dass er sich gesagt hat: Das erspare ich mir und schaue mir die Fotos morgen in aller Ruhe bei leeren Räumen an.
Getroffen haben wir uns dann trotzdem: im Café des Literaturhauses an der Fasanenstraße. Mittlerweile war mir nämlich noch etwas anderes zu Ohren gekommen – dass Christoph Stölzl nach dem Abschied von der großen Politik eine Zeitlang in die Rolle des Feuilletonisten geschlüpft war, der für die «Berliner Morgenpost» jeden Tag einen Text schrieb, ein «Flanierstück», wie er es nannte. Dazu hatte er auch rein äußerlich einen Rollenwechsel vorgenommen: Der elegante, kosmopolitische Krawattenmann band sich einen Wollschal um, setzte eine Tweedmütze auf und zog Tag für Tag los: Zu den Kleingartenkolonien, zu den Rockern an einer Autobahnraststätte, zu den Obdachlosen unter S-Bahn-Brücken, zum Tanztee in Klärchens Ballhaus; er erzählte von morgendlichen Schwimmern um sechs Uhr in einem der Berliner Binnengewässer, besuchte den Flohmarkt und die türkischen Gemüsemärkte in Neukölln.
Er ließ sich in die Abläufe eines Jobcenters einweihen oder war Zeuge, wie Ausländer sich dem Neubürgertest stellten, in der Hoffnung, Deutsche werden zu können. Und er ging zu den bekannten und unbekannten Orten der Geschichte: auf den Friedhof, wo die Opfer des 20. Juli begraben sind, in die Wannsee-Villa, wo die behüteten Kinder heutiger Schulklassen plötzlich mit den unfasslichen Geschehnissen des Holocaust konfrontiert werden, oder an die Neue Wache, wo dank seiner Initiative nun die bekannte Skulptur von Käthe Kollwitz aufgestellt ist. Gut fünfzehn Monate lang streunte er jeden Tag offenen Sinnes herum, bis er jeden Abend um 17 Uhr mit einem neuen Feuilleton auf der Redaktion erschien.
Natürlich wollte ich aus Christoph Stölzls feuilletonistischen Zauberstückchen dann ein Buch machen, und zwar subito. Per Zufall hatte ich erfahren, dass der Autor in knapp drei Monaten seinen 70. Geburtstag begehen werde. Er wunderte sich dann auch ein wenig, warum ich es so eilig hätte, ließ sich aber bald darauf zu einer Redaktionssitzung in Weimar ‹überfallen›. In seinem geräumigen Büro, das zugleich Konferenzzimmer war, setzten wir uns an die äußere Ecke des großen ‹U›, das ein paar Tische bildeten. Wir begannen Texte auszulesen, anzuordnen, umzustellen. Nach sechs Stunden ohne Pause – es stand nicht mal ein Mineralwasser auf dem Tisch – war das Buch zusammengebaut. Frisch und gut gelaunt stand Christoph Stölzl auf, jetzt müsse er aber noch zu einer Sitzung.
Es kam ein weiteres gemeinsames Projekt: das Buch von Michael Ruetz über den «Pogrom 1938», für das Christoph Stölzl das Vorwort schrieb – erneut wieder als guter Geist des Projekts. Zur Präsentation des Bandes sprach Bundespräsident Frank Walter Steinmeier im großen Saal der Akademie am Pariser Platz. Auch diese Vernissage ließ Christoph Stölzl aus – nicht aus Geringschätzung für Thema und Amt, sondern weil er Anlässe dieser Art nicht brauchte, um zu den verantwortlichen Personen zu gelangen und in den zentralen Fragen der neueren deutschen Geschichte etwas Wesentliches zu tun. Schon war ihm die Leitung des zukünftigen Exilmuseums übertragen worden, und dem Entwurf, der aus dem Architekturwettbewerb als Siegerprojekt hervorging, war etwas für Berlin sehr Seltenes beschieden: Er überzeugte alle. Ja, wir werden Christoph Stölzl vermissen.
Die erwähnten Bücher:
Barbara Klemm: «Straßen Bilder»
Mit Texten von Barbara Catoir und Hans Magnus Enzensberger
ISBN 978-3-907142-48-6
EUR 58,00 | CHF 64.00
Stefan Moses: Deutschlands Emigranten
Mit einem Vorwort und biografischen Porträts von Christoph Stölzl
ISBN 978-3-907142-85-1
EUR 39,80 | CHF 44.00
Christoph Stölzl: Morgens um sechs bei Haubentaucher & Co.
Berliner Flanierstücke
ISBN 978-3-907142-44-8
EUR 24,80 | CHF 28.80
Michael Ruetz: Pogrom 1938
Mit einem Vorwort von Christoph Stölzl
ISBN 978-3-03850-050-6
EUR 29,80 | CHF 36.00