Neues aus dem Verlag 1/2024

Zum Gedenken an Andreas Herzau
 

Liebe Freunde und Freundinnen des Verlags,
sehr geehrte Damen und Herren
 
Es ist unsere traurige Pflicht, Sie vom Tod unseres verehrten Freundes und Autors Andreas Herzau zu informieren, der am Dienstag im Alter von 61 Jahren verstorben ist.
Wenn man sagt, er sei der profilierteste Photograph seiner Generation gewesen, so trifft dies zwar mit Sicherheit zu, doch er war mehr: ein eminent politischer Kopf, ein Intellektueller hinter der Kamera, ein engagierter Organisator seines Berufsstandes, ein Praktiker in allen technischen und gestalterischen Belangen seines Metiers, der als Schriftsetzer, Buchgestalter und «Konkret»-Mitarbeiter begonnen hatte, ehe er zur Photographie fand.
Und für uns war er vor allen Dingen ein Freund.
 

Es gibt Freundschaften, bei denen man sich noch genau an die erste Begegnung erinnern kann. Bei Andreas Herzau war es anders: Nora Gomringer hatte als gute Fee eines Tages den Einfall, unseren Verlag empfehlend zu erwähnen, und so war er plötzlich irgendwann da. Wo wir uns zum ersten Mal trafen, was wir gesprochen haben, weiss ich nicht mehr. Denn sofort gehörte er so selbstverständlich zu unserem Verlag, als wäre es schon immer so gewesen. Mit ihm Projekte auszudenken und zu entwickeln, war eine reine Lust: Wenn seine Photos auf dem Tisch lagen und wir daran gingen, sie zu kombinieren, sie auf Anklänge und Kontraste zu prüfen, Überraschendes zutage zu fördern, ihren versteckten Witz zu entdecken – Anregung pur. Es zählte die gemeinsame Arbeit, der Anspruch an die Qualität der Sache. Alles Redundante, vordergründig Erzählende wurde rausgekehrt, nur die Substanz zählte. «Kill your darlings» – wie oft hat er das von sich und von uns verlangt.
 

Und so sind die einzigartigen Bücher entstanden, die wir für ihn herausgeben durften: zuerst «Helvetica». Über kein Land existieren wohl mehr Klischees als über die Schweiz, doch noch nie ist ihnen ein Photograph mit einem solchen ästhetischen Ideenreichtum auf den Grund gegangen. Unter seinem Blick wandelte sich das Bild dieses Landes Seite für Seite in etwas frappierend Unerwartetes, Unvorhersehbares: Herzaus Kunst, Selbst- und Fremdbilder ins Wanken zu bringen, feiert hier geradezu Triumphe, hat ihn aber in der Schweiz wenig empfohlen – in diesen Spiegel wollte man nicht unbedingt schauen (tat es dann heimlich aber doch).

Die Brechung von Sehgewohnheiten fand in Herzaus Buch über Angela Merkel («AM») sogar eine gestalterische Entsprechung.


Die Photos, die er als mitreisender Reporter vom Wahlkampf der Kanzlerin machen konnte, sind alle zweigeteilt, d.h. in der Mitte gefaltet und als Blockbuch gebunden. Das gesamte Photo sieht man erst, wenn man den Falz am äußeren Buchrand eindrückt und dadurch die beiden Bildhälften gemeinsam zu Gesicht bekommt. So gelingt Andreas Herzau das Kunststück, die tausendfach gesehenen Personen und Rituale des Politikbetriebes nicht nur neu zu sehen, sondern ein Nachdenken darüber auszulösen, wie diese öffentlichen Bilder erzeugt werden – was sie zeigen sollen, und was nicht.
Die Stereotypen der öffentlichen Wahrnehmung sind auch das geheime Thema seines Buches «Liberia». In den 1990er Jahren hatte Andreas Herzau den dortigen Bürgerkrieg dokumentiert. Bald aber stellte er fest, dass die Länder Afrikas für unsere Medien nur so lange interessant sind, wie man über Kriege, Armut und Hunger berichten kann. Dass es dort auch ein normales friedliches Leben und zahlreiche ermutigende Entwicklungen gibt, bleibt hingegen aussen vor. Also reiste er 15 Jahre nach dem Bürgerkrieg wieder in das westafrikanische Land und schaute sich unbefangen um. Und siehe da: was für ein farbenfrohes optimistisches Land! Welche Vielfalt und Vitalität! Natürlich sind da auch Kontraste, die ein westeuropäisches Bewusstsein erschüttern und erschrecken können. Doch das Stereotyp, das einen ganzen Kontinent nur als Krisenregion verstehen will, ist eine absurde Projektion, als hätten wir Angst vor dem Leben.


 

Dass der Ideologiekritiker Herzau noch ganz andere Seiten hatte, zeigte er uns zuletzt mit seinen «Bamberg Diaries». Hier photographiert der passionierte Musikliebhaber ein Orchester, nein, schon falsch – er photographiert Musik, d.h. er evoziert mit seinen Bildern den Klang und die Energie von Konzerten.
Und er zeigt die eigentümliche Diskrepanz zwischen den weltlich-banalen Organisationsabläufen hinter den Kulissen und den Wirkungen, welche die Musik mit ihren «überirdischen» Klangwelten auszulösen vermag. Die drei «Bamberg Diaries», die erscheinen konnten, sind ein intimes Vermächtnis, ein unvergängliches Geschenk für die «happy few».

Andreas, wir danken Dir!
Bernhard Echte







Die Bücher von Andreas Herzau:
 


Helvetica
Mit Gedichten von Nora und Eugen Gomringer
96 Seiten, aufgesetzter Deckel
ISBN 978-3-03850-039-1
EUR | CHF 38.00

AM (Angela Merkel)
108 Seiten, Blockbuch
ISBN 978-3-03850-053-7
EUR | CHF 32.00

Liberia
Mit einem Essay von Binyavanga Wainaina in Deutsch und Englisch
146 Seiten, Leinenband
ISBN 978-3-03850-079-7
EUR | CHF 32.00



Bamberg Diaries 1–3
Hrsg. v. Holger Noltze
#1 Europa. Meine Heimat
ISBN 978-3-03850-074-2
EUR | CHF 28.00
#2 China
ISBN 978-3-03850-081-0
EUR | CHF 32.00
#3 In Bamberg zu Hause
ISBN 978-3-03850-092-6
EUR | CHF 32.00

 
Fotos: 1 Nora Gomringer mit Andreas Herzau 2 Andreas Herzau, Günter Geithner und Bernhard Echte